In der Osterausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschien ein Artikel, der mich beschäftigt. Der Titel „Evangelische Kirche: Schwaches Signal“. (Ausg.16/2020) Die Autorin Hanna Jacobs provozierte dort mit der Aussage „Die Kirche ist nicht systemrelevant. Heute nicht mehr, nicht in Deutschland, nicht in diesen Zeiten. Nichts bricht zusammen, wenn wochenlang die Kirchen und Gemeindehäuser geschlossen bleiben. Es brechen keine Tumulte aus, weil alle einsehen, dass man auf den Gottesdienstbesuch derzeit ebenso verzichten muss wie auf das Essen beim Lieblingsitaliener. Beides ist, das zeigt die gegenwärtige Situation, Luxus und nicht lebensnotwendig.“

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Frau Jacobs leitet ihre Überzeugung aus dem Bemühen vieler Pfarrerinnen und Pfarrer ab, in dieser Zeit der Kontaktbeschränkungen Andachten online zu stellen. Mangels Erfahrung erreichen diese Angebote die Menschen nicht, schreibt die Redakteurin. Der Wunsch, als Kirche den vielen, die sich in diesem Ausnahmezustand sorgen, überfordert oder einsam fühlen, endlich digital die Frohe Botschaft bringen zu können, erfülle sich kaum. Sie meint, Hoffnung verbreite dieser Tage eher ein Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, wenn er verkündet, dass die Zahl der Neuinfektionen nun langsamer steigt. Trost spende auch der Videochat, das Zuhören und gemeinsame Lachen mit Verwandten und Freunden, die man nicht besuchen kann. Es seien Familie, Fremde oder Freunde, denen die Bibel Gottes Wort in den Mund legt.

Ich möchte heute nicht die Qualität der digitalen, kirchlichen Angebote bewerten. Wir sind Lernende, manches machen Medienprofis bestimmt besser. Aber die Aussage: „Die Kirche ist nicht systemrelevant“ bewegt sich meines Erachtens auf einer völlig anderen Ebene.

Systemrelevant sind sicher die medizinische Versorgung, Polizei und Feuerwehr, auch die Versorgung mit Strom und Wasser. Und wer oder was ist außerdem systemrelevant? Als am Mittwochabend die Entscheidung bekannt wurde, dass es vorsichtige Lockerungen der Kontaktbeschränkungen geben darf, ging es da um Systemrelevanz? – Seit dieser Ankündigung wird intensiv darüber diskutiert: Warum dürfen die anderen öffnen und wir nicht? Kleine Geschäfte dürfen öffnen, große nicht, doch es gibt es Ausnahmen. Friseure dürfen bald öffnen, Kosmetikstudios nicht, obwohl die körperliche Nähe vergleichbar ist. Wer ist systemrelevant? Und welche Rolle spielt die Kirche dabei?

Es ist die Aufgabe der Kirchen, zu trösten, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und Trauernde zu begleiten. Der Gottesdienst ist eine Auszeit im Alltag und hilft vielen zur Ruhe zu kommen. Aber das ist nicht die einzige Funktion des Gottesdienstes. Adressat unseres Redens und Tuns ist der Mensch im Alltag, die Menschen zwischen den Gottesdienstbesuchen. Diese sind sonntags keine anderen Menschen als an Wochentagen. Wir Christen leben in dieser Welt und übernehmen Verantwortung für das, was um uns herum ist. Als wichtigstes Gebot nennen das Alte und das Neue Testament: „Du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst“. (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18; LK 10, 27) Aus dem Glauben an Gott entsteht die Hinwendung zum Mitmenschen. Nächstenliebe heißt für mich, dem anderen mit Achtung und Wertschätzung zu begegnen. Deshalb möchte ich eintreten für Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Rücksichtnahme und Empathie. Den Nächsten wie mich selbst zu lieben bedeutet, ihm das entgegenzubringen, was ich mir selbst wünsche. Dafür haben wir in den letzten Wochen viele Beispiele erlebt. Was mit der Nächstenliebe aus meiner Sicht nicht vereinbar ist, ist eine Ellenbogengesellschaft mit Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Neid.

Bestimmt erinnern Sie sich an die Meldung, dass die Webseiten der NRW- Finanzbehörden gefälscht wurden, um Daten abzugreifen und Geld auf das eigene Konto zu überweisen. Das ist inakzeptabel, werden viele sagen. Aber wie sieht es aus mit Firmen, die ihre Einnahmen auf dem Papier mindern, indem sie keine Rechnungen schreiben? Warum beantragen Menschen staatliche Soforthilfen, die sie eigentlich nicht brauchen? Einfach, weil es geht und weil schnelle, unbürokratische Hilfe versprochen wurde? Ich nenne das ein Ausnutzen der in dieser Zeit gut gemeinten Solidarität. Wer diese Solidarität egoistisch ausnutzt, zerstört sie. Es ist nicht immer gut, wenn sich das Unrechtsbewusstsein verändert. Von „Das macht man nicht“ gibt es eine Entwicklung zu „Das macht doch jeder“.

Dietrich Bonhoeffer, an dessen 75. Todestag wir in diesen Tagen erinnern, formulierte es damals schon so: „Wir gehen einer religionslosen Zeit entgegen.“ Es gibt heute Menschen, die sind nicht religiös. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie keine Werte haben. Viele Werte entstammen zwar der jüdisch – christlichen Tradition, doch die Kirchen haben kein Monopol darauf. Aber wer sich dafür einsetzt, dass diese Werte in unserem Land nicht vergessen werden, der ist systemrelevant. Ich möchte den Begriff so definieren: Systemrelevant ist, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Das kann die kirchliche Verkündigung sein und auch das verantwortungsbewusste Verhalten nicht religiöser Menschen. Es gilt, den Wert der Menschlichkeit im Bewusstsein zu halten, nicht anbiedernd, aber deutlich hörbar. Auch in einer Zeit, in der sich viele als nicht religiös bezeichnen. Amen